Lesung: Mitreißend las Schauspieler John Wesley Zielmann im Kunsthaus aus den Briefen des Bielefelder Malers Hermann Stenner. Der schreibt von seiner Sehnsucht nach der Heimat – und von der Begegnung mit einem „Ungeheuer“

Rietberg. Ab Bielefeld regnet es. Nach Hannover wird das Wetter besser, und Hermann Stenner steht während der weiteren Zugfahrt gen Süden am Fenster, nimmt Landschaften und Stadtansichten in sich auf. Ein angehender Maler auf dem Weg zur Ausbildung in der Kunstmetropole München. Alles ist möglich, das deutet gleich der erste der Briefe Stenners (1881-1914) an, die der Schauspieler John Wesley Zielmann inmitten der Stenner-Ausstellung im Kunsthaus Rietberg ziemlich mitreißend vortrug.

In diesem Schreiben vom 24. April 1909 an die Familie daheim in Bielefeld geht es wie in der übrigen Korrespondenz vor allem um Alltägliches, Familiäres und erste Eindrücke, später kommen Gedanken über Kunst und die Welt hinzu. Der junge Mann bedankt sich artig für „das Paket mit Wurst“, fragt, ob er eine löchrige Hose zum Schneider bringen oder „mit der Wäsche“ zurückschicken solle.
John Wesley Zielmann ließ in temperamentvoller, nuancenreicher Artikulation einen selbstbewussten, kunstbegeisterten, sehr lernwilligen Jüngling hören, der seine Briefe stets mit „Gruß und Kuss“ beendet. Er sei schon um sechs in der Früh beim Landschaftsmalen, während die Mitstudenten Stunden später eintrudelten, schreibt er vom Aufenthalt in der Dachauer Malschule Hans von Hayeks. Stenner berichtet von Anerkennung durch den Lehrer und wie er, um schneller voranzukommen, statt in die Münchner lieber in die Stuttgarter Akademie strebt.

Dort wird er bald als „Komponierschüler“ in die Klasse von Adolf Hölzel aufgenommen, wo er sich in der Auseinandersetzung mit der eher expressionistischen Kunsttheorie seines Professors von der impressionistischen Malweise löst. Stenner schickt Kritiken zu einer ersten Ausstellung nach Hause, auf der aber keines seiner Bilder verkauft wurde: „Wie überall wird hier der Kitsch zuerst angekauft.“

Nach einem ihn beeindruckenden Aufenthalt in Paris im Sommer 1912 kann Stenner dann den Verkauf eines Blumenstilllebens für 100 Mark vermelden. Er bemüht sich um eine Ausstellung in der ostwestfälischen Heimat („Ich habe an Dr. Oetker geschrieben“), der er immer verbunden bleibt: „Es gibt doch nichts Schöneres als den Wald bei Detmold.“

Aber auch dort ist er nicht bereit, sich einem gängigen Kunstgeschmack anzupassen. Kunst solle „nicht gefallen“, sondern „neue Perspektiven“ eröffnen, bekundet er im Mai 1913. Er jedenfalls werde sich „nicht selbst untreu werden“, schreibt er.

Aber wie so manche seiner Kollegen ließ auch dieser Avantgarde-Künstler sich im August 1914 von der allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken und rückte als Freiwilliger ein. Stenners Feldpost über „das Ungeheuer Krieg“ aus den Schützengräben im Westen ist indes keine Euphorie zu entnehmen. Dann ging es in den Osten. „Von Gütersloh aus zu telefonieren versucht“, heißt es auf der Feldpostkarte vom 30. November, vier Tage vor seinem Tod bei Warschau. „Der Zug hält nicht in Bielefeld.“

Foto und Text: Rolf Birkholz, Neue Westfälische